Mykorrhiza: Die unsichtbare Verbindung im Wald
- Lukas Steiner | Expert für Naturheilkunde
- 12. Nov. 2024
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 16. Dez. 2024
Stellen Sie sich vor, Sie spazieren durch einen herbstlichen Wald. Über Ihnen ragen majestätische Bäume in den Himmel, unter Ihren Füßen raschelt das Laub. Was Sie jedoch nicht sehen können, ist das faszinierende Netzwerk, das sich unter der Erde erstreckt - das sogenannte "Wood Wide Web", erschaffen durch die Mykorrhiza. In einem einzigen Teelöffel Walderde können sich mehr als einen Kilometer Pilzfäden verbergen, die dieses komplexe unterirdische Netzwerk bilden.

Die Geschichte der Mykorrhiza-Entdeckung
Die Geschichte der Mykorrhiza-Forschung ist fast so faszinierend wie die Symbiose selbst. Der deutsche Botaniker Albert Bernhard Frank prägte 1885 den Begriff "Mykorrhiza", als er bei seinen Studien zur Trüffelzucht eine überraschende Entdeckung machte. Er beobachtete eine innige Verbindung zwischen Pilzen und Baumwurzeln, die sich als grundlegend für unser Verständnis der Waldökologie erweisen sollte. Was damals als revolutionäre Entdeckung galt, wurde zu einem der fundamentalsten Konzepte in der Erforschung von Waldökosystemen.
Was ist Mykorrhiza?
Der Begriff Mykorrhiza stammt aus dem Griechischen und bedeutet wörtlich übersetzt "Pilzwurzel". Diese Symbiose zwischen Pilzen und Pflanzenwurzeln hat sich als derart erfolgreich erwiesen, dass heute etwa 90% aller Landpflanzen diese Verbindung eingehen. Die Evolution dieser Partnerschaft reicht über 400 Millionen Jahre zurück und spielte eine entscheidende Rolle bei der Eroberung des Festlands durch die Pflanzen. Ohne diese frühe Zusammenarbeit hätten Pflanzen möglicherweise nie den Schritt vom Wasser aufs Land geschafft.

Die verschiedenen Formen der Mykorrhiza im Wald
In unseren heimischen Wäldern begegnen wir hauptsächlich zwei Formen dieser faszinierenden Symbiose: der Ektomykorrhiza und der Endomykorrhiza. Bei der Ektomykorrhiza umhüllen die Pilzfäden die Wurzelspitzen wie ein schützender Mantel. Diese Form finden wir besonders bei unseren großen Waldbäumen. Viele unserer bekanntesten Speisepilze sind Teil dieser Gemeinschaft. Der Steinpilz beispielsweise geht diese Verbindung mit Eichen und Buchen ein, während der Pfifferling verschiedene Laubbäume als Partner wählt. Selbst der ikonische Fliegenpilz spielt eine wichtige Rolle in diesem Netzwerk, indem er sich mit Birken verbindet.
Die Endomykorrhiza hingegen, auch als arbuskuläre Mykorrhiza bekannt, geht noch einen Schritt weiter. Hier dringen die Pilzfäden direkt in die Wurzelzellen ein und bilden dort filigrane, baumähnliche Strukturen. Diese Form ist besonders häufig bei Gräsern, Stauden und vielen unserer Kulturpflanzen zu finden. Obwohl weniger auffällig als ihre waldpilzlichen Verwandten, sind diese Pilze nicht minder wichtig für das Funktionieren unserer Ökosysteme.
Der gegenseitige Nutzen
Die Partnerschaft zwischen Pilz und Baum gleicht einem fein abgestimmten Tauschgeschäft. Der Pilz vergrößert die effektive Wurzeloberfläche des Baumes um das bis zu Tausendfache. Durch sein weitverzweigtes Netzwerk feiner Pilzfäden erschließt er Wasser und Nährstoffe aus Bodenbereichen, die für die Baumwurzeln sonst unerreichbar wären. Besonders bei der Aufnahme von Phosphor und Stickstoff leistet der Pilz unschätzbare Dienste.
Im Gegenzug versorgt der Baum seinen pilzlichen Partner mit den Produkten der Photosynthese. Bis zu 30 Prozent der durch Photosynthese gewonnenen Kohlenhydrate fließen in dieses unterirdische Netzwerk. Der Pilz erhält damit nicht nur Nahrung, sondern auch einen geschützten Lebensraum in und an den Wurzeln seines Partners.

Das "Wood Wide Web"
Das wohl faszinierendste Aspekt der Mykorrhiza ist ihre Funktion als Kommunikationsnetzwerk des Waldes. Große, alte Bäume, oft als "Mutterbäume" bezeichnet, können über das Pilznetzwerk mit bis zu hundert anderen Bäumen in Verbindung stehen. Sie unterstützen nicht nur ihre eigenen Nachkommen mit Nährstoffen, sondern warnen andere Bäume auch vor nahenden Gefahren wie Schädlingsbefall.
Wenn ein Baum von Schädlingen befallen wird, kann er über das Pilznetzwerk chemische Warnsignale an seine Nachbarn senden. Diese können dann rechtzeitig ihre Abwehrmechanismen hochfahren. Gesunde Bäume unterstützen über dasselbe Netzwerk kranke oder gestresste Artgenossen mit Nährstoffen. Besonders beeindruckend ist die Versorgung junger Sämlinge, die im Schatten der großen Bäume heranwachsen. Sie erhalten über das Pilznetzwerk lebenswichtige Nährstoffe von den etablierten Bäumen.
Bedeutung für den Waldschutz
In Zeiten des Klimawandels gewinnt die Mykorrhiza zunehmend an Bedeutung für den Waldschutz. Das Pilznetzwerk hilft den Bäumen, mit Trockenperioden und anderen Stressfaktoren besser umzugehen. Es verbessert nicht nur die Wasserversorgung, sondern stärkt auch die allgemeine Widerstandsfähigkeit des Waldes gegen Umweltstress.
Die moderne Forstwirtschaft hat die Bedeutung dieser unterirdischen Netzwerke erkannt. Bei Aufforstungen werden zunehmend mykorrhizierte Setzlinge verwendet, und bei der Waldplanung wird auf den Erhalt bestehender Netzwerke geachtet. Auch der Erhalt alter Bäume gewinnt neue Bedeutung, da diese als wichtige Knotenpunkte im unterirdischen Netzwerk fungieren.
Praktische Tipps für Pilzsammler
Als Pilzsammler können wir zum Schutz dieser wichtigen Symbiose beitragen. Pilze sollten vorsichtig abgedreht oder abgeschnitten werden, um das unterirdische Pilzgeflecht nicht zu beschädigen. Der Waldboden sollte möglichst wenig aufgewühlt werden, und es ist wichtig, nicht alle Fruchtkörper einer Stelle zu entnehmen. Einige sollten stehen bleiben, um die Sporenbildung und damit die Vermehrung der Pilze zu ermöglichen.
Ausblick in die Zukunft
Die Erforschung der Mykorrhiza ist längst nicht abgeschlossen. Neue Technologien wie DNA-Sequenzierung und 3D-Bildgebung enthüllen ständig neue Aspekte dieser faszinierenden Symbiose. Besonders spannend ist die Rolle der Mykorrhiza bei der Kohlenstoffspeicherung im Boden und ihre Bedeutung für die Anpassung der Wälder an den Klimawandel.
Das nächste Mal, wenn Sie durch den Wald spazieren, denken Sie daran: Unter Ihren Füßen erstreckt sich ein gewaltiges Netzwerk, das den Wald zusammenhält und am Leben erhält. Jeder Schritt berührt Hunderte dieser winzigen, aber lebenswichtigen Verbindungen - ein verborgenes Wunderwerk der Natur, das uns einmal mehr zeigt, wie eng alles Leben miteinander verwoben ist.